Nur Lehmann drückt die B-Note

Trotz eines furchtbaren Patzers seines deutschen Torhüters erspielt sich Arsenal London mit dem 1:1 beim FC Chelsea im Halbfinale der Champions League eine hervorragende Ausgangsbasis fürs Rückspiel in einer Woche

LONDON taz ■ „Fußball ist keine Sache auf Leben und Tod, sondern viel wichtiger“, behaupten die Engländer. Meistens aber entscheiden die Nuancen. „Es gibt da eine feine Linie“, wusste so zum Beispiel der sichtlich deprimierte Eidur Gudjohnsen nach dem Spiel. „Wenn du das 2:0 machst, bist du fast im Halbfinale – wenn nicht, kann es immer sein, dass Arsenal zurückkommt.“ Und sie waren mal wieder zurückgekommen, die Gunners, nur vier Minuten nach dem Treffer von Chelseas Isländer (52.) und einem blauen Angriffstornado, der die Gäste zwar gewaltig durcheinander gewirbelt, aber dank den gekonnten Paraden von Jens Lehmann keine weiteren Schäden hinterlassen hatte. Ein einziger klarer Angriff – eine Flanke, ein Kopfball von Robert Pires – reichte den derzeit einfach nicht zu bezwingendem Arsenal zum 1:1-Ausgleich, der angesichts der Auswärtstor-Regel fast einem Siegtreffer gleichkam.

„Es ist klar, dass man sich über so ein wichtiges Tor besonders freut, wenn man zuvor eine unglückliche Aktion im Tor gehabt hat“, gab Lehmann zu. Die feine Linie, im Tor ist sie noch viel feiner: Wo hört dort Pech auf, wo fängt ein Fehler an? Arsène Wenger legte sich nach eingehendem Studium der Zeitlupen auf die Sprachregelung fest, dass Lehmann „nicht komplett unschuldig“ am Tor der Gastgeber gewesen sei, der Daily Telegraph hatte dagegen „einen furchtbaren Patzer“ gesehen, der mittlerweile zum „Markenzeichen“ des Deutschen geworden sei: Wie schon im Ligaspiel gegen Leeds hatte Lehmann beim Klärungsversuch den Gegner getroffen. „Ich hatte gemeint, einen kleinen Vorsprung zu haben und den hatte ich auch“, schilderte der Torwart später sehr aufgeräumt und mit einem halben Schokoriegel in der Hand das Malheur: „Doch dann habe ich leider den Stürmer getroffen, und der Ball fällt ihm genau vor die Füße. So etwas sieht natürlich blöd aus.“

Ansonsten gab es an der B-Note der Gunners wenig auszusetzen. Thierry Henry wirbt im englischen Fernsehen als cooler Jazzmusiker verkleidet für ein französisches Auto. Vieles, was er und seine Kollegen am Ball machen, sieht so mühelos aus, dass es dem neutralen, Kampf und Leidenschaft schätzenden Fußballfan auf der Insel schon wieder hochgradig suspekt ist. Die Grenze zwischen spielerischer Leichtigkeit und Überheblichkeit ist manchmal ungenügend markiert. „Arrogant“ findet nicht nur Chelseas Jimmy Floyd Hasselbaink das Team. Doch aus diesem Vorwurf spricht letztlich der pure Neid. Arsenals Kicker sind nicht nur jung und reich, sie haben auf dem Platz darüber hinaus oft auch noch das im Überfluss, was im Alltag allen anderen fehlt: Raum und Zeit. Am Mittwoch, im überall als „größtes Londoner Fußballspiel aller Zeiten“ gehypten Champions-League-Derby, nahmen die wie besessen kämpfenden Blues dem designierten Meister beides über 90 Minuten fast gänzlich weg.

In der Vergangenheit brannten in Arsenals schöner Traummaschine in solchen Situationen regelmäßig die Sicherungen durch. Die Kanoniere aber sind dieses Jahr aus einem anderen Metall gegossen – zur Kreativität gesellt sich eine phänomenale mentale Stärke und die Bereitschaft zur Arbeit. Angeführt vom majestätischen Patrick Vieira hielt man kräftig dagegen, heraus kam ein atemberaubend intensives Match ohne viele Chancen. Dass muss kein Widerspruch sein, wenn sich zwei technisch versierte Teams auf höchstem Tempo gegenseitig die Bälle abgrätschen. Obwohl sich in den beiden Strafräumen über weite Strecken nichts tat, tobten so gewaltige Schallwellen durch das Stadion. „Testosteron schwappte über den Platz“, freute sich die Times.

Chelsea hat nach dem 1:1 nur noch geringe Chancen, trotzdem durfte sich Trainer Claudio Ranieri, laut eigener Einschätzung „ein Gladiator, der immer weiter kämpft“, als Sieger fühlen. Geschäftsführer Peter Kenyon hatte ihn in den vergangenen Tagen äußerst perfide demontiert, im Stadion wurde er dafür gefeiert: Für Leute, die auf verlorenem Posten die Haltung bewahren, hat man auf der Insel eine große Schwäche. Seine Entlassung ist unabhängig vom Rückspiel längst besiegelt. Wie ein „dead man walking“, ein zu Tode Verurteilter, sei er sich in den vergangenen Wochen vorgekommen, hat Ranieri erzählt. Die Rache wird ihm im Diesseits nicht mehr gelingen, bis zu Saisonende bleibt er ein Untoter. „Wenn Arsenal gewinnen will, müssen Sie uns erst umbringen“, sagte er am Mittwoch. Es hörte sich fast wie eine Bitte an.

RAPHAEL HONIGSTEIN